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Beamte und Offiziere. Die Identität russischer Staatsdiener in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts ist, was Rußland betrifft, von Historikern oft stiefmütter-lich behandelt worden. Nach dem Goldenen Zeitalter der Aufklärung unter Katharina II. und vor der ereignisreichen Epoche der Großen Reformen in den 1860er Jahren unter Alexander II. erschien und erscheint die Regentschaft von Alexander I. (1801–1825) und Nikolaus I. (1825–1855) als uninteressante, unspektakuläre Zeit des Stillstands und der Stagnation, in-nenpolitisch gekennzeichnet durch eine zwar enorme, aber doch kaum positive Effekte zei-gende Bürokratisierung und Zentralisierung der Verwaltung. Die Studien über die Beamten der Vorreformzeit beschränkten sich meist auf eine Institutionen- und Normengeschichte; sie dokumentierten wohl die Anstrengungen des Gesetzgebers, konnten aber oft wenig über die reale Situation vor Ort sagen. Die auf der Grundlage von Personalakten angefertigten sozial-geschichtlichen Arbeiten zeigten zwar die sozialen Hintergründe der Beamten und deren Fort-entwicklung, konnten darüber hinaus aber auch wenig Aussagen über die Welt der Beamten treffen. Allgemein schien jedoch Einigkeit zu bestehen, daß ein nach westlichem Muster ent-wickeltes Verwaltungssystem existierte, allein die Staatsdiener, die diese Apparatur bedienen sollten, dabei kläglich versagten, weil sie ungebildet, korrupt und faul waren. Die hier angefertigte Studie hat es unternommen, die Beamten, und hier sind v.a. die rangniederen Beamten in den Provinzen gemeint, aus kulturwissenschaftlicher Perspektive zu rehabilitieren. Voraussetzung dafür war, nicht westliche Maßstäbe und einen Entwicklungs-standard, wie ihn Preußen, England oder Frankreich zu Beginn des 19. Jahrhunderts erreicht hatten, anzulegen, sondern sich weitestgehend ohne vorgefertigte Raster wie Verhaltensnor-men, Wertordnungen und Begriffsbestimmungen den Beamten zu nähern. In gewissem Sinne kann hier von einer Historisierung gesprochen werden. Die Idee war, die historischen Subjek-te selbst zu Wort kommen zu lassen und so zu untersuchen, wie sie sich ihren Dienst vorstell-ten, was ihre Handlungsmaximen waren, was sie unter Ehre verstanden und in welchen Ab-hängigkeiten sie lebten. Als Quellen dafür wurden in erster Linie Autobiographien, Akten der Senatorenrevisionen und Berichte der Dritten Abteilung, der Geheimpolizei, ausgewertet. Herausgekommen ist, daß sich die Entwicklung der Verwaltung im Rußland des frühen 19. Jahrhunderts eher mit der Situation in England und Frankreich im 17. Jahrhundert verglei-chen läßt, als hier eine traditionale Ordnung, in der Patronage-Klientel Verhältnisse das öf-fentliche Leben bestimmten, langsam von staatlich diktierten, vertraglich geregelten Bezie-hungen abgelöst wurden. Für die russischen Beamten galt auch im 19. Jahrhundert noch, das personale Netzwerke ihr Amtsleben bestimmten, die nur scheinbar von gesetzlichen Regelun-gen überlagert wurden. Ähnlich wie Marcel Mauss für die archaische Gesellschaft den Pot-latsch als zentrales Moment des zwischenmenschlichen Beziehungsgeflechts herausgearbeitet hat, lebten die Beamten nach einer Ökonomie des Geschenks, in der sie selbstverständlich Gaben von den Bittstellern nahmen, die sie ihrerseits mit ihren Amtshandlungen bezahlten. Aber auch die Beziehung zu ihren Vorgesetzten war auf diese Weise geregelt: für bedin-gungslose Loyalität und Ergebenheit erhielten sie im Austausch Ränge, Orden und Prämien. Will man die Welt dieser Beamten verstehen, ist es nicht hilfreich, hier mit „Bestechungen“, „Korruption“ und „Willfährigkeit“ zu arbeiten. Die Beamten lebten bis zu den Großen Re-formen in einem sehr sensiblen, genau austarierten System von Gaben und Gegengaben, Pro-tektion und persönlicher Abhängigkeit. Ihr Ehrbegriff bezog sich nicht auf ein unbestechli-ches, den Bittstellern gegenüber gerechtes und neutrales Engagement; Ehre hatte sich für sie in Orden, Abzeichen und Rängen materialisiert, nach denen sie geradezu süchtig waren. Da-bei sollte nicht behauptet werden, sie handelten nicht für das Allgemeinwohl, denn dieses bezog sich in ihren Augen allein auf den Zaren, dem sie sich tief verpflichtet fühlten. Entspre-chend dieser Realitäten verlief ihr Alltag und Leben nicht entlang der Linien von Vorschrif-ten, Gesetzen und Verträgen, sondern wurde beherrscht von Freund- und Feindkategorien, wunderbaren Karrieren an der Seite mächtiger Männer und furchtbaren Abstiegen, provoziert durch Intrigen, Verschwörungen und Verleumdungen. Diese mikroanalytische Studie konnte zeigen, daß dem Phänomen Rußland nicht beizu-kommen ist, wenn man es als westlichen Staat betrachtet und so immer nur Abweichungen von der Norm feststellt. Es sollte anerkannt werden, daß die Abweichung keine Fehlfunktion, sondern die Norm selbst war, der ein eigenes, höchst sensibles System zu Grunde lag. Die Großen Reformen waren der erste ernsthafte Versuch, die alten personalen Beziehungsge-flechte zu entmachten und durch ein neutrales Regelwerk zu ersetzen.
Projektleitung:
Prof. Dr. Helmut Altrichter, Emeritus

Beteiligte:
Dr. Susanne Schattenberg, Dr. Bernhard Chiari

Laufzeit: 1.11.1998 - 4.6.2001

Förderer:
Deutsche Forschungsgemeinschaft

Kontakt:
Altrichter, Helmut
Telefon 09131/8522363, E-Mail: helmut.altrichter@gmx.net
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